Gleichstellung

Mach meine Kollegin nicht an!

03.11.2025 | Jede dritte Frau hat es bereits an ihrem Arbeitsplatz erlebt: sexistische Sprüche, Witze oder unangemessene Berührungen. Oft wird das Problem kleingeredet, Betroffene schweigen aus Angst vor Konsequenzen. Dabei ist es wichtig, hinzuschauen, einzuschreiten und füreinander einzustehen.

Thomas Range

Montagmorgen, Schichtbeginn. Yasmin ist auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz, als ein Kollege an ihr vorbeigeht und fragt: »Wie viele Chefs hast du für diese Stelle eigentlich flachgelegt?« Yasmin reagiert nicht. Sie hat solche Sprüche schon zu oft gehört.

Yasmin könnte auch Birgit heißen oder Lena. Denn Yasmin gibt es nicht. Aber ihre Situation ist real – für viele Frauen in der Produktion, im Büro, auf dem Flur. Sie steht stellvertretend für viele Kolleginnen, die im Arbeitsalltag sexistische Kommentare zu hören bekommen.

„Wand der Schande“

Um auf die Situation von Frauen hinzuweisen, wurde am VW-Standort in Baunatal eine besondere Initiative ergriffen. Die Vertrauensfrauen Anna-Marie Lehmann und Sabrina Patzer sammelten gemeinsam mit der Vertrauenskörperleitung des Werks und der Frauensprecherin der IG Metall anonym Erfahrungsberichte von Kolleginnen. Entstanden ist die »Wand der Schande«. Eine eindrückliche Dokumentation sexistischer und anzüglicher Bemerkungen – so wie jene, die »Yasmin« zu hören bekam.

Dass es sich dabei nicht um ein Randphänomen handelt, zeigt ein Blick auf aktuelle Zahlen. Laut einer EU-weiten Erhebung über geschlechtsspezifische Gewalt wurde jede dritte Frau am Arbeitsplatz schon einmal sexuell belästigt. Besonders häufig betroffen sind jüngere Frauen. In der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen hat bereits jede zweite entsprechende Erfahrungen gemacht.

Doch sexuelle Belästigung betrifft nicht nur Frauen. Auch Menschen aus der LGBTQI+- Community erleben sie häufig. Obwohl Männer deutlich seltener von solchen Erfahrungen berichten, kann es auch sie betreffen. Eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung zeigt, dass 15 Prozent von ihnen bereits Erfahrungen mit sexueller Belästigung gemacht haben – sei es als direkt Betroffene oder als Zeugen.

Die Zahlen machen deutlich: Sexuelle Belästigung ist kein Einzelfall und betrifft alle. Sie äußert sich in obszönen Gesten, aufdringlichen Blicken, E-Mails mit sexuellem Bezug oder unerwünschten Berührungen. Und hinter diesen Zahlen stehen Menschen, die mit den Folgen der sexuellen Belästigung leben müssen. Betroffene berichten von Angst, Scham, Ekel, Schlafstörungen und auch Depressionen. Außerdem beobachten 72 Prozent der betroffenen Betriebe auch im Arbeitsalltag negative Folgen: Sexualisiertes Verhalten mindert die Arbeitsmoral, Produktivität und Anwesenheit.

Keine Grauzone: Belästigung ist strafbar

Umso wichtiger ist es, aktiv zu werden. Wer sexuelle Belästigung erlebt oder beobachtet, sollte nicht schweigen, sondern den Vorfall ernst nehmen. Gespräche mit Mitarbeitenden, Vertrauensleuten oder dem Betriebsrat können helfen, erste Schritte zu unternehmen. Der Betriebsrat kann in solchen Fällen vermitteln und Maßnahmen einleiten. Ebenso entscheidend ist die Dokumentation – mit Datum, Ort und Inhalt. Denn auch scheinbar beiläufige Bemerkungen können Teil eines wiederkehrenden Musters sein.

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) schützt Beschäftigte vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Verstöße können arbeitsrechtliche Konsequenzen bis hin zur Kündigung nach sich ziehen. Das AGG verpflichtet Arbeitgeber, geeignete Maßnahmen – vor allem auch zur Prävention – zu ergreifen. Dazu zählt die betriebliche Beschwerdestelle, bei der Beschäftigte vertraulich Meldung machen können. Nach Paragraf 13 AGG ist jeder Betrieb verpflichtet, eine solche Stelle einzurichten. Unterstützung erhalten Betroffene nicht nur im direkten Arbeitsumfeld durch Betriebsräte, sondern auch bei ihrer IG Metall vor Ort – etwa durch Beratung und Rechtsschutz.

Präventive Maßnahmen wie Schulungen oder sensibilisierende Aktionen sind ebenfalls wirksam – das zeigt die Initiative der Vertrauensleute bei VW Baunatal. Die von ihnen gesammelten Sprüche wurden auf Betriebsversammlungen präsentiert. »Am Anfang wurde noch gelacht, als die ersten Sprüche als Audioaufnahme eingespielt wurden«, berichten Sabrina und Anna-Marie. »Aber je mehr Beispiele zusammenkamen, desto ernster wurden die Gesichter.«

Im Anschluss an die Veranstaltung erfuhren sie viel Solidarität. Zahlreiche Mitarbeitende zeigten sich betroffen und überrascht. »Viele waren entsetzt. Ihnen war die Tragweite dessen, was Frauen erleben müssen, nicht bewusst«, berichtet Sabrina. Gleichzeitig gab es auch andere Reaktionen. Einige wollten die Berichte nicht glauben, andere äußerten abwertende Kommentare wie: »Lasst Euch mal ein dickeres Fell wachsen.« Für den überwiegenden Teil der Beschäftigten war jedoch klar: »Das dulden wir hier nicht. Wir stehen zu Euch.«

Starkmachen - gegen jede Form von Gewalt

Der offene Umgang mit dem Thema hat auch nachhaltig Wirkung gezeigt: Die Präsentation der gesammelten Sprüche auf den Betriebsversammlungen wurde zum Auslöser für Gespräche, nicht nur während der Veranstaltung, sondern auch danach. Anna-Marie und Sabrina berichten, dass mehr Frauen den Mut fanden, Vorfälle zu melden. »Seit wir das offensiv angehen, trauen sich mehr Frauen, sich zu melden, Nein zu sagen und darüber zu sprechen«, erzählen sie.

Die gemeinsame Aktion von Kollegen und Kolleginnen bei VW zeigt: Wer hinsieht und handelt, schützt nicht nur die Betroffenen, sondern stärkt das Miteinander im Betrieb. Anna-Marie bekräftigt: »Wir arbeiten ja gemeinsam – als Frauen, Männer, Menschen mit Migrationsgeschichte, Menschen mit Behinderung, queere Menschen. Dabei müssen wir zusammenhalten und klare Kante zeigen.«

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